Samstag, 5. August 2017
Der Traum
Ich war mit Rieke und der schönen Sängerin unterwegs. Die Sängerin hatte ein Blumenkränzchen im Haar und erzählte von Leipzig, wo sie hinziehen würde. Rieke erzählte etwas von Stuttgart.
Leipzig, Stuttgart. Schöne Städte. Da wollte ich auch mal wohnen. Da fühlte ich mich bei Besuchen immer wohl. Aber ich bin halt hier.
Im Januar würde ich nach Neuseeland gehen. Das hatte ich mir organisiert, damit ich nicht noch einen Winter in dieser tristen Stadt verbringen muss. Das hatte ich mir sehr gut organisiert. Ab Januar. Erst ab... Januar. Es ist Sommer, jetzt. Was... was mache ich eigentlich bis Januar? Ich hatte mir eine neue Zwischenmiete hier organisiert. Ich hatte mir einen Stundenplan gemacht. Philosophieseminare, semiinteressant. Englischkurs, nötig. Tanzkurs, 2x die Woche schwimmen. Steht alles drin, sorgfältig mit Bleistift. Wie ein kleiner Roboter. Ganz automatisch. Ich hatte mich nie gefragt, ob ich das will. Ich bin scheinfrei. Ich bin nicht verpflichtet. Leipzig. Stuttgart. Ich könnte auch dort wohnen. Ich wurde stinkwütend.
Aber warum hat mir das denn keiner gesagt?, pampte ich die Sängerin an. - Na ist doch deine Sache, meinte sie achselzuckend, im Schneidersitz im Gras hockend.
Tatsächlich. Es war meine Sache.
Ich muss jetzt alleine sein, presste ich aus zusammengekniffenen Lippen hervor, drehte mich um und stapfte den Weg zurück, einen Holzweg, einen Waldweg, bergauf. Er gabelte sich und ich wählte den, der am ehesten nach geradeaus ging. Ich wollte geradeaus, obwohl ich eigentlich wusste, wir waren von links gekommen. Vielleicht wollte ich auch nicht, dass sie mich fanden, wollte mich verirren. Dann kam rechterhand ein Jahrmarkt. Ein böser Jahrmarkt, ein Gruseljahrmarkt von Stephen King erschaffen. Noch war alles fröhlich, bunte Ballons, Zuckerwatte und blinkende Lämpchen. An der Boxautostation stand meine Angst. Es war ein Mann und es war der Teufel. Er hatte einen schwarzen Sack an und gelbe Augen. Ich ging zu ihm hin. Er ist nicht echt, sagte ich mir, er ist nicht echt, und es sind viele Leute drum herum. Er kann dir nichts tun.
Außerdem kam Rieke von hinten, das wusste ich. Sie würde mich hier nicht alleine lassen. Der Mann nahm sich die gelben Augen raus. Sie waren nicht echt. Ich war frei. Rieke erreichte mich und wir lachten.
- Wir haben dich gesucht, sagte sie.
Wir gingen zusammen zurück zu den anderen. Auf dem Weg dachte ich an St und daran, dass ich sogar bei ihm wohnen können würde, jetzt, wo ich frei war. Ich sah die Wohnung vor mir, das Haus, ich glaube, es war hellblau gestrichen oder das war nur der Balkon, Holzlatten des Balkons.

Beim Aufwachen schwitze und bebe ich. Schnell lege ich mir die Hand auf die Brust. Ganz ruhig. Ich gehe in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen und treffe die Sängerin auf dem Sofa liegend.
Ich hab von dir geträumt, sage ich. - Oh, was denn?
Während ich erzähle, fallen mir Details wieder ein. Es waren noch mehr Leute dabei da im Gras beim Holzweg. Ich dachte schon dort an St und wie es wäre mit ihm. Irgendetwas war noch in einer Tiefgarage.

Ich muss gar nicht hier sein, sage ich und halte mein leeres Glas in der Hand.
Hol dir doch was zur Zwischenmiete in Leipzig, sagt die Sängerin. Sie hat sich inzwischen aufgesetzt.
Ja. Nein. Ob es den Aufwand wert ist. Der Umzug und alles. Aber ich könnte. Nach Barcelona, nach überall. Ich bräuchte nur Geld. Oder es dürfte nichts kosten. So billig wie hier, wo könnte ich da leben? Ich weiß es nicht. Auf dem Hausboot vom Wolf? Nächste Woche fliege ich nach Spanien. Ich könnte dort bleiben, vielleicht. Ich könnte arbeiten irgendwo. Ich könnte einen dieser Fabrikjobs machen und Geld verdienen. Meine Existenzsorgen für Neuseeland kleiner machen. Es ist alles möglich.

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Mittwoch, 5. April 2017
In den Dünen
Mit den Dünen am letzten Tag war ich eine Stunde und fünfzehn Minuten alleine. Nur der Wind war auch da. Meine Stimme, die sang, all in the saints all in the saints dadada da (textsicher war ich noch nie). Dann erzählte ich mir, wofür ich dankbar bin. Mein Kopf ist gesund. Meine Augen, die Ohren, mein Mund, meine Nase. Mein Rumpf und die Arme, der Hals auch, mein Brüste und mein Bauch, mein Rücken!, mein Unterleib, der Po, meine Beine, meine Füße. Ich fühle überall hin, eins nach dem anderen. Ich erinnere mich an die Wunden, die es gab an diesen Stellen. Aber in diesem Moment spüre ich: Alles an mir ist gesund.
Die WG. Dass das Geld doch reicht, ja. Mein Schreiben. Die Sonne da vorne, der Wind. A. M. St. Meine Freunde. Die Zeit im Februar. Alle, die ich liebe, sind gesund.

Alle, die ich liebe, sind gesund.

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Mittwoch, 5. April 2017
Mir ist
traurig.

Now it comes to distances, singt Leonard, mal wieder, und ich denke an St. Habe seinen Brief auf dem Schoß mit schwarzer Tinte gemalte Großbuchstaben. St. schreibt nur in Großbuchstaben. Habe unsere Fotos durchgesehen, die in dem Brief lagen, vom Segeln von 2015. Bald ist es 2 Jahre her. Und noch immer ist es nicht gut. So sehr versagt habe ich mit keinem. In dem Brief nimmt er Abstand von mir, Abschied mag er nicht schreiben.

Vielleicht ist es auch wegen Oma. Ich war nicht auf der Beerdigung. Der Tod ist also nicht wirklich passiert. Ungreifbar, unfassbar ohne das Ritual. Meine Schwester hat Fotos für mich gemacht, Papa auch. Noch sind keine bei mir angekommen. Mit den Fotos könnte es realer werden. Ich hoffe das sehr. Meine Tränen stecken irgendwo fest in diesem Halbgefühl, das stärker und drängender wird jeden Tag, aber weinen kann ich nicht.

Vielleicht ist es wegen A, an den ich mich jedes Mal kralle, wenn sowas passiert, wenn so eine Angst wieder kommt, diese Existenzangst, letzte Woche, weil meine Brille zerbrochen ist und ich mir keine neue leisten kann. Den halben Tag geweint, er rief zurück, wir führten ein Gespräch, das ich nicht mehr führen wollte mit ihm, nicht so, er tröstet, er versucht zu verstehen, er wäscht mir auch den Kopf auf seine liebevolle Art, ich bin ganz klein.

Mit M. war ich am Meer ein paar Tage. Ich wollte so gerne wieder das Meer sehen. Am schönsten war es für meine Füße. Das Watt, der Matsch und Sand. Swing getanzt zu Livemusik in meinen grünen Gummistiefeln. Bounce bounce bounce. Und mit M. nicht gesprochen über uns, wieder nicht. Es war mir ein Anliegen. Es war keine Zeit. Ich musste noch Texte abgeben, sieben, acht, zu viel.

Wenn die breite flächige Traurigkeit kommt, das ist nicht gut. Shaun Tan hilft. The Red Tree holt die Tränen hoch. sometimes
you just DON'T KNOW
what you are
supposed to
do

or
WHO
you are meant

to

be



Heute mittag war ich noch schwimmen mit Rieke, morgen wird es wieder anders, wie immer, wie jeden Morgen, und jetzt ist mir traurig.

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Montag, 20. März 2017
Was schön war [KW 11]
Ich schreibe vier kleine Zettel, 2x rotes Papier, 2x orangenes, mit meinen Ängsten drauf. Ich male eine Skizze der Angst und schreibe noch was drunter, dann falte ich sie ordentlich und stecke sie in die Box und verlasse rückwärts den Raum. Ich habe keine Lust die mit nach Hause zu nehmen, die sollen schön da bleiben. Ich bin guter Dinge.

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Eine Stunde vor Abreise finde ich meinen Geldbeutel wieder und bin unendlich erleichtert.

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Fünf Minuten bevor das Taxi mich abholt, springe ich vor die Tür, wo P. gerade mit zwei anderen beim Rauchen steht und sage ihm, was für eine tolle Ausstrahlung er hat. P. freut sich sehr: I-Ich?
Ja, du. Dieses Grinsen immer, du strahlst dann richtig.
I-Ich?
Ja, du. Ich muss jetzt los. Tschüß, schöner Mann!
T-Tschüß, schöne Frau!
Er umarmt mich und ich springe davon.

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Überhaupt, diese Abschiede.

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Im Zug vergesse ich nicht meine Mütze. Die Mütze habe ich mal von St. bekommen, also wir waren gemeinsam im Secondhand, als ich sie gekauft habe, er hat bezahlt, ich hab's ihm später zurückgegeben vielleicht, weiß ich nicht mehr, es ist jedenfalls die St.-Mütze, er hat mir zu ihr geraten und sie steht mir phantastisch, sie ist dunkelblau, grob gestrickt, mit Bommel und ich vergesse sie nicht im Zug.

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Den ganzen Tag in der Bib mit Rieke verbracht, sehr produktiv. Ich schreibe an einem Reflexionsbericht und höre mir dazu Audioaufnahmen eines Interviews an, das ich geführt habe. Ich rede nur mittelviel Mist. Meine Lache klingt auch halbwegs erträglich.

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Freitagabend machen Rieke und ich in ihrem Zimmer die Übungen, die mir der süße Physiotherapeut in Ausbildung gezeigt hat. Unterarmstütz 30 Sek., Pause, 40 Sek., Pause, 45 Sek. Seitstütz rechts und links ebenso, Bauchhalteübung eigentlich auch so, aber da schaffen wir nur 3x 20 Sek. und sind bedient. Außerdem: reger Austausch über Beckenbodentraining, das machen wir dann noch während der Pausen. Ich mag Rieke und ihre direkte Art.

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Telefonat mit der Katalanin. Aber nur kurz, sage ich zu Beginn, ich recherchiere gerade Literatur für eine Arbeit zum Thema Traum. Da fängt sie schallend an zu lachen und erinnert mich an unseren Istanbulurlaub, da hatte ich ihr morgens im gemeinsamen Hotelbett von meinem nächtlichen Erleben erzählt.
Nein, nein, eine wissenschaftliche Arbeit, verteidige ich mich, aber sie ist nicht mehr zu beruhigen.

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Samstagabend, Rieke und ich haben mega Hunger und nix mehr in der WG, Nudeln und trocken Brot. Wir raffen uns auf und schlurfen zu Penny, standesgemäß in Jogginghosen, ohne BH.
Schössöö, verabschiedet uns die Kassiererin mit einer Raucherstimme aus der Hölle. Das heißt hier anscheinend Tschüß. Schössöö, sagt Rieke. Schössöö, sage auch ich. Dann gibt's Karotten und Gurke mit Frischkäsedip und eine kleine gelbe fast reife Melone, Quinoa mit Champignons und als Desert Stracciatellaeis. Geht doch.

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Montag, 6. März 2017
KW 9
Ich lerne zu häkeln.

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Ich telefoniere mit meiner Kindergartenfreundin, mit meinen Studienfreundinnen J. und T., natürlich mit M., und auch mit A., weil er dieses Mal der ist, der Geburtstag hat. Ich bin den ganzen Tag nervös deswegen, ich bin schon Tage zuvor nervös deswegen, und es wird ein Gespräch, bei dem man nicht hätte nervös sein müssen. Wir verabreden uns für nächste KW zu einem erneuten Telefonat, warum weiß ich nicht. Manche Dinge passieren einfach.

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Ich war wieder wandern, dieselbe Strecke, dasselbe Café, neben mir ging eine Frau vom ZDF mit Perlohrsteckern, Jackett und Bluse, wir verstehen uns dennoch gut und ihre Ausstrahlung beeindruckt mich.

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Dass ich jetzt häkeln kann, freut mich wider Erwarten sehr.

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Ich habe Wäsche gewaschen. Auch immer ein Grund zur Freude, der gesamte Prozess: Sortieren, in die Waschmaschine stopfen, etwas zuschauen, wieder herausholen, aufhängen, abhängen, zusammenlegen, einordnen. Im Moment hängt die Wäsche allerdings noch.

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Ich war diese Woche zwei Mal im Fitnessstudio und bemerke so etwas wie Oberarmmuskeln.

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Das Buch, an dem ich arbeite, wird gut. Ich habe das im Gefühl. Es ist vergleichbar mit meiner Diplomarbeit damals. Auch da wusste ich, dass es gut wird. Mein Zweitgutachter riet, sie als Dissertation anerkennen zu lassen. Es war eine sehr umfassende Diplomarbeit geworden. Inhaltlich sicher angemessen, aber: ich war noch nicht soweit. Jetzt bin ich es und will nicht mehr, glaube ich.

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Neben mir liegt ein Buch von Pierre Bourdieu. Sein Werk macht mich zufrieden. Kluge Menschen, die sich vernünftig ausdrücken können und selbstreflektiert sind, machen mich immer zufrieden. Sie trösten mich auch.

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Ich habe ein Bild über meine Angst gemalt, das mir so gut gelungen ist, dass ich es bei Dunkelheit nicht anschauen will. Zuerst habe ich allerdings eins zu meinem Frieden gemalt, es ist eher geöffneter Frieden, offenes Glück oder so, die Körperhaltung jedenfalls ist offen und die Farben sind grün und gelb. Das Angstbild ist eindrucksvoller, als das andere, klar, aber es gibt beide, und das ist ja auch schon ein Anfang.

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Ich häkle ein Kuscheltier, was für eins weiß ich noch nicht, es hat bisher einen Standardkörper und 2,5 Standardbeine, der Kopf wird über sein Wesen entscheiden, ich bin gespannt.

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Ich habe den gesamten Sonntag im Bett verbracht, bis auf drei Mal Mahlzeiten zu mir nehmen und mehrmals kurz ins Bad gehen, ungelogen, den ganzen Tag im Bett. Es ist nicht so, dass das herausragend schön war, aber es war anscheinend nötig und dann ist das auch in Ordnung.

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