Donnerstag, 3. November 2022
Tagebuch, 03. November 2022
Ach, warum nicht?
Warum nicht hier rein schreiben, wie es heute ist.

Seit M mir das GIF mit der Umarmung geschickt hat und ich weinen konnte, geht es wieder besser.
Bin erschöpft.
Von den Gefühlen und vom Funktionieren.

Gedanken um meinen Vater wabern im Hintergrund. Die zweite TIA hat mir den Boden weggerissen, ich verliere meinen Papa, das war das Gefühl. Jetzt hat er Covid, seit gestern wahrscheinlich, meine Mutter hat ihn angesteckt. So richtig zu Bewusstsein kommt es aber nur ab und zu. Kurz die Überlegung, anzurufen, aber dann doch keine Energie dafür.

Gestern beim Mittelbautreffen von meinem neuen Angebot für die Studierenden erzählt und mich verheddert, viel mehr geredet als angemessen, und vor allem viel mehr angeboten als ich leisten kann.
Mir dabei irgendwie auch noch selber zugehört, konnte es aber nicht stoppen.

M geschrieben, ich habe das Gefühl, ich kann nur verlieren. Entweder ich passe mich an die Mehrheit an, an die Erwartungen der Leute, die halt NORMAL sind - und fühle mich mit mir selbst scheiße. Oder ich handle nach meinem Empfinden - und bleibe allein, abgelehnt und immer die, die so komisch ist.
Ich merke sehr genau, wenn mich die Leute komisch finden.

In Neuseeland war es anders. Dort konnte ich in aller Ruhe autistisch sein. Na gut, im Tanzkurs usw. war es schwierig. Aber socialisen war ok. Es gab trotzdem genug Ruhe, genug Meer, Bäume, Sand.
Ich mochte mich.
Ich war gerne mit mir zusammen.
Die Erschöpfungszustände konnte ich durch den Heiler, die Vipassana-Kurse und Meditation auffangen. Und durch Menschen, die mich in meiner ganzen schrägen Andersartigkeit mochten und schätzen.

Ich überlege seit Wochen wieder mehr, ob ich mich offiziell testen lassen soll. Was das für Folgen hätte. Habe den tollen Text von von Buddenbohms Herzdame und Patsy Jones über ADHS gelesen.

Stelle es mir wie eine große Erleichterung vor, einerseits. Vielleicht hilft es mir aus dieser ganzen Anpassungsscheiße rauszukommen, die meinen Alltag an der Uni bestimmt. Aber ich muss es den Leuten dann ja auch erzählen, damit sich etwas ändert - oder reicht es, wenn sich - vielleicht - in mir etwas ändert?

Gestern A am Telefon erzählt, dass ich wieder alle online Tests gemacht habe und überlege, zum Arzt zu gehen.
-Musst du nicht, sagte der lachend, das kann ich dir auch so sagen.

Ach, A. Der einzige, der meinen Alltag viele Jahre miterlebt hat. Und kaum einer hat mich so geliebt. Wenn ich damals in unserer Wohnung einen der breakdowns hatte, nahm er mich in den Arm, streichelte mir über den Rücken und sagte "Ach, mein kleiner Autist...".
Ohne wirklich zu wissen, was das heißt. Wir haben nie richtig darüber gesprochen, warum ich vieles so anders empfinde. War auch nicht nötig irgendwie, er hats verstanden und angenommen und wenn gar nichts mehr ging, mich gehalten und gesagt "Ach, mein kleiner Autist..." Das hieß: Ich sehe dich, ich verstehe dich, ich liebe dich trotzdem.

Jetzt kommen wieder die Tränen.

Das ist viele Jahre her. A wohnt in Hamburg, weit weg. Alle wohnen woanders, weit weg.

Den alleranstrengensten Job habe ich mir ausgesucht. Die Doktorarbeit ist meine Leidenschaft, ja. Über die Forschung kann ich stundenlang reden, ja. Ich liebe das Lesen, das Denken, die Analyse, das Spiel mit der Sprache. Aber ich komme ja kaum dazu.

Wegen der Menschen, die da auch sind. Die Profs, die ganzen Kollegen, das Verwaltungssystem, die scheiß E-Mails und die mega-scheiß Tagungen, Versammlungen und Meetings.

Es kostet so viel Energie. Die fehlt für mich, die Diss, das schöne Leben, das mir dauernd abhanden kommt.

Wenig Energie, aber Zeit kosten die zig Anfragen der Studierenden, denen es auch nicht gut geht. Die weinend in meinem Büro sitzen und sagen, sie schaffens einfach nicht.

Letztens sagte eine mit klarer heller Stimme: "Wissen Sie, ich bin NICHT dumm! Ich weiß, dass ich nicht dumm bin! Aber in meinem Kopf rasen tausend Gedanken." Sie hat eine ADHS-Diagnose und quält sich seit Jahren durch das Studium.
Ein anderer hat jetzt endlich einen Therapieplatz und übt sich in kleinen Schritten, realistischen Zeitplänen, Ruhepausen.
Die dritte schreibt ein paar Tage nach der Sprechstunde "Liebe Frau N, zuerst möchte ich mich nochmal ganz herzlich bei Ihnen für den letzten
Termin bedanken. Der Einstieg in das neue Semester ist mir anschließend gefühlt viel leichter gefallen. Wirklich vielen Dank für Ihren empathischen Input!"

Tja.
Gerne.
I feel you.
I feel you all.
Und es ist auch alles bisschen viel für mich.

-Du bist so wichtig für die, sagt M. Du hast dich allein da durchgebissen und hilfst jetzt jungen Menschen zu wachsen.

Ja. Ich habe mich durchgebissen, Diplom, Master - jetzt die Doktorarbeit. Fachlich war das kein Thema, ist es auch immer noch nicht. Aber ich hatte Freunde in meiner Nähe, die jetzt nicht mehr da sind.

Jetzt sind da Menschen, die erwarten, dass ich funktioniere. Ich bin gut geübt in mich reinzwingen, passend machen. Aber es ist zu viel. Und immer wieder diese Meetings, in denen ich auffalle wie ein verdammter, tja --- kleiner Autist --- und mich danach tagelang schäme.

Es fällt mir sehr schwer, das anzunehmen, wenn keiner bei mir ist, der es gut mit mir meint.

Mir ist schon klar, dass ich mir das selbst geben können sollte. Mir selbst eine Freundin sein. Not that easy. Ein echte Umarmung würde helfen.

Jetzt läuft Something Good von alt-j.

Belassen wir es für heute dabei.